"Ich wurde Lehrer aus Überzeugung. Ich wollte der Menschheit etwas beibringen, ich wollte die Menschheit verändern. Ich wollte wirklich Lehrer werden", sagt Bichsel in einem NDR-Porträt 1965. Es ist die Zeit, da er einen kometenhaften Aufstieg in den Literaturhimmel erlebt, und doch auf dem Boden bleibt: In Zuchwil im Schulhaus, wo er sechs Tage die Woche unterrichtet. Hier, in dieser Schule, von seinen Schülerinnen und Schülern, sei er zum Schriftsteller ausgebildet geworden, sagt Bichsel.
Den Lehrerinnen, die sich bilden wollen, rufe ich zu: Lest Bichsel, er bildet mehr und besser als der Lehrplan! Beispielsweise die Erzählung "Eine Erklärung an den Lehrling von Prey". Abwechselnd ein erzählendes Ich und seine Hauptfigur, Professor Habertruber, erklären die Welt mit ihrem Halbwissen. "Im Halbwissen, so viel hatte er gelernt, ist alles Frage." Mit er ist der stets nur zuhörende Lehrling von Prey gemeint. "Der Lehrling aus Prey sass daneben am Tisch, hatte sein Kinn in den Händen, die Ellbogen weit ausgespreizt und hörte nur zu, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er sich dabei etwas merkt. Er hatte gelernt, den Augenblick des Erzählens jedem Wissen und jeder Brauchbarkeit vorzuziehen". Denn: "Nur der lernt wirklich, der sein ganzes Streben auf das Nichtlernen richtet. Nur der kann darüber staunen, was er alles weiss."
In der Schule vermitteln wir Halbwissen, weil schulisches Wissen dazu da ist, eine Beziehung zwischen den Kindern und der Lehrerin herzustellen. Wissen ohne Lehrerin ist nutzlos, denn was sie vermittelt, ist Bildung, nicht Wissen. Bichsel nennt das, was in uns etwas auslöst und von allem Unmittelbaren erlöst (also was uns bildet) Geschichte. "Was einmal selbst etwas war und mich von aussen betraf, wird zum Bestandteil meiner Geschichte. Wenn einmal alles meine Geschichte ist, dann werde ich tot sein und zu einem kleinen Bestandteil einer anderen Geschichte werden."
Ich tue, als könne ich diesen Text erklären. Das geht so wenig, wie man schweigen und erzählen zugleich kann. "Denn nicht jenes sind die Geschichten, die sich selbst erklären, sondern nur jene, die an Geschichten erinnern." Zu viel Weisheit ist in diesem vertrackten Text, als dass ich ausdrücken könnte, was mich lesend berührt. Eines aber: In diesem Text erklären Bichsel/Habertruber nicht die Welt. Kinder tun dasselbe, sobald sie schreiben können: Sie schreiben dann zum Beispiel: "Du bist die beste Mama". Hier wird Liebe erklärt. Die beiden letzten Sätze lauten: "Mein Versuch aber, den Lehrling zu lieben, sei ernst genommen. Der Lehrling von Prey ist ein Mädchen".
Franco Supino
Peter Bichsel: "Eine Erklärung an den Lehrling von Prey", aus: "Der Busant: Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone". Suhrkamp Tachenbuch, 2002.